Ich habe schon etliche Marshalls besessen, auch die Vorgänger des JVM. Obwohl der Preis in den letzten beiden Jahren um 200€ gestiegen ist, habe ich es mit diesem betagten Modell noch einmal wissen wollen.
Wer diesen Amp aber verstehen möchte, sollte unbedingt die 22 Seiten eines bekannten US-Forums lesen, in welchem der damalige Designer des Amps, Santiago Alvarez („Santiall“), der nicht mehr für Marshall tätig ist, viele Fragen beantwortet und technische Details erklärt. So räumt er endlich mal mit dem Mythos auf, dass man die Power-Tubes der JVMs mit einer Load-Box in die Sättigung treiben kann.
Faktisch ist der JVM Marshalls Massenprodukt und man hält halt immer noch an Bletchley fest, weil es die Verkaufszahlen hochhält. Ich war selbst schon da und sie haben dort einen großen Hallenbereich nur für die JVM-Fertigung. Denn die hauseigene Konkurrenz mit den modifizierten Plexi und 2203ern für Prestigekäufer ist hoch. Neidvolle Blicke wie noch vor 15 Jahren erntet man mit einem JVM auf der Bühne schon lange nicht mehr. Selbst bei Iron Maiden werden sie unter der Bühne versteckt, was natürlich andere Gründe hat. Vielleicht ist das auch der Grund, warum man die JVMs in all ihren Modellvarianten massenhaft auf dem Gebrauchtmarkt findet. So stelle ich mir die Frage, wer für ein neues Halfstack tatsächlich knapp 2500€ hinblättert, wenn man schon für die Hälfte ein nicht mal 5 Jahre altes gepflegtes Bedroom-Stack ohne Bühneneinsatz inklusive 1960er AV bekommen kann.
Die meisten JVM-Halfstacks dürften ohnehin in den Wohnzimmern dieser Welt stehen, weil man eben auch Zimmerlautstärke fahren kann.
Klar dürfte sein, dass niemand 12 Grundsounds nutzten wird, eher 3-5. Alvarez beschreibt auch ganz klar, wie die einzelnen Kanäle mit ihren Sounds, Klangregelung und Gain-Stufen aufgebaut sind. Das ist in den Manuals von Marshall (es gibt in den letzten 18 Jahren mehrere Versionen) teilweise missverständlich.
Wie hier schon mehrfach zu lesen: Die OD-Kanäle rauschen wie ein Wasserfall. Das war beim 2000er und TSL nicht so. Wer epische High-Gain-Soli wie Comfortably Numb, November Rain etc. spielen möchte, kommt um ein Noise Gate nicht herum. Damit zerstört man aber die Dynamik des Amps. Das hat auch Petrucci vor ein paar Monaten im Rahmen einer Clinic an einem College noch einmal klar erläutert. Er nutzt sie in seinen Boogies kategorisch nie.
Zu den einzelnen Sounds muss ich nichts beitragen, das ist bereits hinreichend zu lesen und zudem höchst individuell und instrumentabhängig.
Die parallele Loop arbeitet schön, wenn man weiß, wie man sie richtig nutzt und über Effekte mit Kill Dry Option verfügt.
Die zweite parallele Loop ist veraltet und war damals noch an Vintage-Studio-Equipment angelehnt.
Die Schalter des Amps sind wackelig und billig. Man kann seitlich an ihnen auf die Platinen schauen. Hier gehören Führungsrähmchen hin! Je nach Blickwinkel sind die Modes Orange (Amber) und Red schwer auseinander zu halten. Auf dem neuesten Foot Switch PEDL-91016, das den Amps mittlerweile beiliegt, noch viel schlechter.
Nein, der Amp besitzt keine Digital-Potis und speichert lediglich die Schalter-Einstellungen wie z.B. Sound, Kanal, Reverb on/off, Loop etc.
Die Dagnall-Trafos sollen mittlerweile gegen billigere ausgetauscht worden sein. Die Originale werden oft hoch gehandelt. Aber ob man das aber hört…
Warum sich Marshall noch immer verschließt, endlich mal Bias-Mess-Ports und die mV-Potis auf die Rückwand zu verlegen, ist nicht nachvollziehbar. Selbst bei den China-PRS ist man da weiter und die billigen Bugera-Infiniums haben sogar Auto-Biasing. Will man da etwa Servicekosten generieren für diejenigen, die sich einen gefährlichen Endstufen-Röhren-Wechsel mit mindestens 120€ teurem Equipment für Mess-Sockel-Adapter usw. nicht selbst zutrauen..?
Dennoch kann man mit einem 410H nichts falsch machen. Die Gründe für die Anschaffung einer 210 oder 205er erschließt sich mir nicht. Sie sind nur unwesentlich günstiger und man verschenkt z.B. die Option, die laut Alvarez identisch aufgebauten Sounds Crunch Red und OD1 Green (letzterer rauscht trotzdem deutlich lauter) mit unterschiedlichen Klangsettings zu betreiben. Und zwei Röhren weniger in den 50 Watt-Versionen machen sie nicht leiser, spart höchstens Geld beim Röhrenwechsel. Dafür weniger Headroom an einem 412er-Cab.
Wem Klasse statt Masse, Prestige und Boutique wichtig und Geld eher unwichtig sind, wird als Marshall-Enthusiast eher einen der neuen Reissues der gemoddeten JCM800 oder 1959er erwerben. Denn die lassen sich in 20 Jahren sicher noch für einen Haufen Geld verkaufen. Da sind die JVMs schon längst Geschichte und gelten zusammen mit Hughes & Kettners Triamp Mark III immer noch als die ersten „analogen Röhren-Modeller“